"In Bachs riesigem Gesamtwerk bilden die Motetten nur eine kleine Gruppe, die sich zumal neben den rund 200 überlieferten Kantaten recht bescheiden ausnimmt. Doch im historischen Rückblick erscheint gerade das Motettenkorpus in besonderer Weise ausgezeichnet, ist es doch derjenige Teil des Bachschen Vokalschaffens, der als einziger nach 1750 in ungebrochener Tradition bis heute lebendig geblieben ist. Bewahrer dieses Erbes war in den ersten Jahrzehnten nach Bachs Tod der Leipziger Thomanerchor. Früh wurden hier einzelne Motetten als Repertoire-, ja wohl gar als Paradestücke gepflegt.
Offenbar als ein solches dargeboten lernte Mozart 1789 auf der Durchreise in Leipzig die Motette Singet dem Herrn ein neues Lied unter dem Thomaskantor Johann Friedrich Doles kennen - für Mozart nach der bekannten Schilderung von Johann Friedrich Rochlitz ein künstlerisches Urerlebnis. In den 1790er Jahren schon springt ein Funke nach Berlin über, und man beginnt dort in der Singakademie unter Carl Friedrich Christian Fasch Bachsche Motetten zu studieren. 1802/03 erscheint bei Breitkopf & Härtel in Leipzig die erste Druckausgabe und bahnt den Motetten des Thomaskantors den Weg in die musikalische Welt.
Die Motetten J. S. Bachs sind, musikhistorisch gesehen, späte Beiträge zu einer Gattung, deren Blütezeit längst vorüber war. Die Leitform des protestantischen Hoch- und Spätbarock war die Kantate. Die Motette war gleichsam abgedrängt in die Nebenrolle des kirchenmusikalischen Gelegenheitswerks, das vom Kantor auf Bestellung und gegen Bezahlung komponiert und aufgeführt wurde. Als Trauer-, daneben als Glückwunschmusik führt sie bis in die Zeit Bachs gerade in der Kunst und Kleinkunst mitteldeutscher Kantoren und Kantoreien allerdings noch ein durchaus reges Nachleben...." - Klaus Hofmann